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Der Schweizer Jürg Vetterli, Jahrgang 1952, hat sein Herz fürs Gestalten schon mit 11 Jahren entdeckt. Damals gewann er den 1. Preis in einem Stadtzürcher Zeichenwettbewerb. Mit 14 kaufte er seine erste Kamera, weil ihm Zeichnen doch zu lange dauerte. Stattdessen mühte sich der Teenie mit eigenhändigen Vergrößerungen ab. Er lernte Schriftsetzer, um mit Schrift und Foto “Bilder” zu komponieren. Seine ersten Löhne investierte er in eine bessere Kamera und richtete seine eigene Dunkelkammer ein, zu Haus, im eigenen Schlafzimmer. Später reiste Jürg Vetterli durch Nordamerika, arbeitete als Fotoreporter für eine Baufachzeitschrift, gestaltete auch deren Titelbilder und experimentierte mit Verfremdungen und Manipulationen. Seit 1983 ist er selbstständig als Grafiker und Künstler. Seine NatUrgestalten hat er in verschiedenen Ausstellungen präsentiert; sie sind in limitierter Auflage und handsigniert zu kaufen. Und sie werden veröffentlicht, wie in einem Portfolio der Zeitschrift “digifoto” im Oktober 2001.
Wenn es Jürg Vetterli in den Wald zieht, dann sieht er sie. Denn sie blicken ihn an. Und seine Familie sieht sie auch, manchmal. Vor allem, wenn er sie ihnen zeigt. Also zog er los und fotografierte sie. Digitale Beweissicherung für die Existenz von Gnomen und Geistern, Holzköpfen und -körpern. Damit sich die Waldgeister zeigen, braucht es Zeit, Ruhe und Geduld. Er muss sich mit ihnen einlassen und Kontakt aufnehmen. Manchmal “sieht” seine Digitalkamera mehr als er, denn dank des schwenkbaren Displays kann er “um die Ecke” schauen, in Ritzen hinein oder weit unten nach Entdeckungen suchen, wo er mit dem Kopf am Sucher kaum hinkäme. Das geschieht immer ohne Stativ und auf jeden Fall ohne Blitz. Der würde ihm alles verderben, indem er die Furchen und Rillen jäh ausleuchtete, aus denen seine Geister bestehen, und somit die Waldgeister vertreiben. Manchmal zeigt ihm das Display vor Ort mehr als er auf dem Monitor daheim wiedererkennt. Dann rätselt er selbst, mit welcher ungeschickten Bewegung er ein scheues Wesen verscheucht hat. Den eingefangenen Waldgesellen setzt er Augen ein und “schminkt” sie zart. Die Holzgestalten im Vordergrund werden geschärft und der Hintergrund verwischt - die Geister erhalten eine Seele und einen Namen, erwachen somit zum Leben und sie schauen dich an. “Emudrac” wurde von ihm aus sechs verschiedenen Elementen “komponiert”: Kopf, hinteres Ohr, Auge, Hals, Rippen, Bauch und Mantel. Nach solchen digitalen Manipulationen zeigen sich die Kreaturen, die zuvor nur ihm zugeblinzelt hatten, auch anderen Betrachtern deutlich. In Rosenheim zeigt uns Jürg Vetterli keine Exoten wie Delfine, Papageien und Elefanten. Er zeigt uns Kernwesen, die mit einer Seele versehen sind und ihre ureigene bezaubernde Mystik ausstrahlen. Diese NatUrgestalten werden mit uns stumm kommunizieren. Sie scheinen stumm zu sagen: Wir sind noch da, wir haben überlebt. Man wird insgeheim verlockt, selber in den Wald zu gehen und nach den Wurzelmännern und -frauen, nach Fantasiegestalten zu suchen. Dabei erinnert man sich an die Vogelstimmen des taufrischen Morgens, die Geräusche von Kleintieren und Insekten. Mit dieser Intuition kann das Bewusstsein wieder geweckt werden für die Bedürfnisse der Welt um uns herum. Und vielleicht entdecken wir sie dann auch. Den Big Weitsneybel mit seinem langen Schnabel, Wurex und Flört. Oder aber Emudrac erscheint uns und nimmt uns mit in seine eigene Welt.
Zeit: Sonntag, den 26. Mai 2002 Block 4: 11:10 - 11:30 Uhr
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